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LIEBER BRUDER - Sireli Yeghpayrs. Postkarten des Sammlers O. C. Calumeno zeigten das Leben der Armenier zu Beginn des 20. Jh. in der Türkei. Junge Armenier ca. 1910 (l.); Kinder im Armenischen Viertel in Ismidt (m.); O. Köker, Verleger, C. Rastovic (r.)

25.04.2006, ADK

Bericht: DIE ERINNERUNGSARBEIT HAT BEGONNEN

"DIE ERINNERUNGSARBEIT BEGINNT! Ohne die Erinnerung an den armenischen Genozid gibt es keine Gesundung der türkischen Gesellschaft." So ein Eintrag ins Gästebuch der Ausstellung "Lieber Bruder", der zum Nachdenken anregt. (...)  Zur gut besuchten Eröffnung sprachen u.a. Osman Köker, der Verleger, Osman Okkan, Leiter des Kulturforums Türkei/Deutschland e.V.; Cem Özdemir, MdEP, in der 3. Person und in futuristischer Geste, Zitat: (...) dass in "Zukunft türkische Diplomaten Ausstellungen wie diese" eröffneten und endlich auch von dem "Schmerz und der Schande sprächen, die die Türkei mit dem Völkermord auf sich geladen habe" (...). Zuvor hatte Bezirksvorsteherin Helga Blömer-Frerker die zahlreichen Gäste mit den Worten begrüßt: "Wir wissen viel zu wenig über die Kultur der Menschen, mit denen wir zusammenleben. Umso wichtiger sind Ereignisse wie dieses."
 
Das aufmerksame Publikum konnte aus den nach Provinzen präsentierten Dokumenten sehr wohl das einige Jahre später einsetzende Vertreiben und Vernichten der Armenier ableiten: Hotels in Istanbul, Seiden- und Teppichmanufakturen, geschäftiges Treiben, Kirchen, Klöster, Waisenhäuser, Musiker, Schüler, soziales, gesellschaftliches Leben überhaupt – wo ist dieses Leben geblieben? Oft hüllte sich die große Kunsthalle in traurige Nachdenklichkeit. Bei näherem Hinsehen bekamen die Postkarten eine hochpolitische Brisanz. Viele Besucher hatten Fragen, die das Kulturforum und die DAG versuchten zu beantworten. (...)

Auf einer von der DAG veranstalteten Podiumsdiskussion im Lew Kopelew Forum lautete die Frage zunächst "Warum ist es so schwierig – in Deutschland – auch vor dem Hintergrund der Berliner Demonstration und den Reaktionen darüber – über Armenien zu sprechen?"
In zweiter Linie sollte es um die Postkartenausstellung gehen. Es wurde die Frage diskutiert, ob die Postkarten die schwierige Problematik des Völkermordes verniedlichen bzw. verharmlosen. Christiane Schlötzer, langjährige Türkeikorrespondentin der SZ, die die Ausstellung einen "Tabubruch" für die Türkei nannte, sah dies nicht so, sondern hob ganz besonders die Chance der Annäherung hervor, besonders ausgelöst durch die Debatte um das Buch der Rechtsanwältin Fethiye Cetin, deren Großmutter am Sterbebett preisgegeben hatte, sie sei eigentlich Armenierin; erwähnt wurde das taktische Verhalten der Türkei auch in Sachen Historikerkonferenz und Orhan Pamuk.
In der sehr gut besuchten politisch ausgerichteten Diskussion, in der Heike Mund sachkundig vermittelte, wurde besonders von Dogan Akhanli immer wieder die mangelnde emotionale Schuldanerkenntnis der Türkei angeführt, dies sei der erste Schritt, so Akhanli. Das Trauma des Völkermordes sei nach wie vor präsent und schwierig und müsse aufwändiger und präziser behandelt werden als mit einer Postkartensammlung, so Minu Nikpay von der Armenischen Gemeinde.  
Prof. Dr. Mihran Dabag, vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung trug seine These vor: "die Türkei verlasse nach wie vor ihre Täterrolle nicht". Er konnte ausführlich von seiner Tätigkeit als Genozidforscher berichten und hob immer wieder die Aufforderung an die Türkei hervor, den Völkermord nicht weiter zu leugnen. Deswegen sei die Ausstellung schwierig und bedürfe mehr gezielter Information. Dennoch bestätigte er Christiane Schlötzer, sei sie eine wichtige Ausstellung im Prozess der Annäherung.
Eine lebhafte Diskussion schloss sich an, besonders klar wurde vom Publikum formuliert, dass sich solange offenbar nichts ändere, solange die Wiedergutmachungsfragen immer ausgeblendet würden. Mit dem konzentrierten Rahmen des Forums – im Kontext zur Annäherung zwischen Ost- und Westeuropa – konnte das Lew-Kopelew Forum wieder punkten (...).

Zum Begleitprogramm, das gemeinsam vom Kulturforum Türkei/Deutschland e.V. und der DAG erarbeitet wurde: Alfrant Bedrosoglu konnte mit seinem eindrucksvollen Dia-Vortrag  "Die verlorene Welt der Armenier" –  auf den Spuren der Armenier in der heutigen Türkei – bildhaft beweisen und vermitteln, dass Kirchen, Klöster, Schulen usw., noch zu sehen auf den historischen Postkarten, heute weitgehend vernichtet bzw. zerstört wurden.

In einer musikalisch untermalten deutsch-türkischen Lesung mit Kemal Yalcin "Mit dir lacht mein Herz" ging es um Zwangstürkisierung und die "Unsrigen". Meline Pohlmann, Mitglied der Armenischen Gemeinde, las eindrucksvoll abwechselnd mit dem Autor den deutschen Part.

Ein besinnlich stimmender Abend im Kontext der Ausstellung, die Bücher Kemal Yalcins konnten eingesehen und erworben werden. Auch hier war im Anschluss Zeit für intensive Gespräche.

Die sehr gut besuchte Podiumsdiskussion am 21.4. 06 "Die Armenische Frage, die EU, die Türkei heute" mit Dr. Ulrike Dufner von der Heinrich-Böll-Stiftung Istanbul, Dr. Raffi Kantian, DAG und Heide Rühle MdEP, war mehr auf die Türkei und ihre Haltung focusiert. Dr. Ulrike Dufner konnte ausführlich über ihre Erfahrungen aus Istanbul berichten, auch ihre Ängste in Richtung "neuer Nationalismus" seit Anfang 2005 skizzieren. Sie stellte das neu veröffentlichte Buch "Wenn man die Armenierfrage diskutiert..." vor.

Die DAG hatte mit Dr. Raffi Kantian einen hochprofessionellen Podiumsteilnehmer platziert, der die geschichtlichen Details immer wieder auf den Punkt brachte. Von Heide Rühle wurden 3 Säulen eines kritischen Diskurses dargestellt, an denen sich das EP bzw. ihre Türkeipolitik orientiere: Minderheiten anerkennen, Verhältnis zum Staat Armenien klären, freie Meinungsäußerung und Debatte zur Anerkennung des Völkermordes zulassen. Von allen Podiumsteilnehmern wurde übereinstimmend bestätigt, die Kopenhagener Kriterien müssen eingehalten werden, es gibt keine politischen Bonuspunkte für die Türkei. Die Moderation hatte Murat Bayraktar vom WDR.Die Besucherzahlen in Köln waren zufriedenstellend, hätten noch besser sein können, vor allem wäre die Ausstellung für den Geschichtsunterricht mehr als ein Ausflug wert gewesen. Aber wegen der Osterferien, eine leider verpasste Chance. Auch für die türkischen Kulturvereine in NRW eine verpasste Chance, hier steht dann doch der Neubau einer Moschee in Köln im Vordergrund. Schade für so wenig Interesse. Aber, der angefragte NRW-Integrationsminister Armin Laschet, der als Podiumsteilnehmer ins LKF kommen sollte, hatte ja auch keine Zeit.Allerdings war es so, dass diejenigen Besucher, die gekommen waren, sich sehr lange Zeit ließen zu schauen und auch interessante Texte und Notizen in das Gästebuch geschrieben haben. Offenbar haben viele Armenier auf "ihren persönlichen Spuren" gewandelt. Die Ausstellung, wird zur Zeit in Frankfurt/Main im Historischen Museum gezeigt in der Galerie Migration und ist dort hervorragend platziert. Cem Özdemir hat versprochen, die Ausstellung ins Europa-Parlament nach Brüssel bzw. Straßburg zu holen, darauf können wir gespannt sein. Rückblickend kann gesagt werden, dass die  DAG als Kooperationspartner wahrgenommen wurde. Es war gut, dass die DAG mit dem Kulturforum Türkei/Deutschland e.V. kooperiert hat, es gab Widerstände und Kompromisse, aber man kann sagen: Es hat sich gelohnt, dieses Projekt gemeinsam zu meistern. Danke auch an das Kulturforum. Es war und ist ein kleines Mosaiksteinchen auf dem Weg zu einer bewussteren Erinnerungsarbeit in der Armenischen Frage und auch ein Zeichen an die Türkei, dass das Interesse an  der osmanischen Geschichte auch ein Stück deutsche Geschichte ist, und dass es eine Menge mündige Bürger gibt, die wohl in der Lage sind, zwischen den Zeilen, zwischen Postkarten, historischen Erkenntnissen und Dokumenten, zwischen "alten und neuen" Medien ihr Welt- und Meinungsbild selbst zu bestimmen, dass sie nach wie vor viele Fragen haben und dass sie nicht locker lassen werden, im Bemühen um Gerechtigkeit, d. h. um die Anerkennung des Völkermordes durch die türkische Regierung. Eine kleine Postkarte kann eben hochpolitisch sein. Die Ausstellung wurde von dem Istanbuler Verlag Birzamanlar Yayincilik mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung organisiert und von Osman Köker, dem Verleger des gleichnamigen Buches, konzipiert.

Ort: Kunsthalle Köln-Lindenthal, 31. 3. - 25. 4. 2006
Veranstalter in Köln: Kulturforum Türkei/Deutschland e.V.
Kooperationspartner: Deutsch-Armenische Gesellschaft.
Veröffentlicht in ADK, Armenisch-Deutsche Korrespondenz 131/132, Jg 2006